Dich und andere verstehen
Diesmal möchte ich gerne von einer bestimmten Beziehungserfahrung erzählen, die ich sehr hilfreich finde. Ich nenne sie einfach „in eine Beziehung eintauchen“ und sie funktioniert nicht nur mit Liebesbeziehungen, sondern mit allen Beziehungen.
Auf dem Weg zur Erleuchtung oder zu unserem wirklichen Selbst werden wir mit der Zeit immer sensibler. Besonders in Bezug auf andere Menschen geht es mir extrem so. Früher konnte ich ohne Probleme mit so vielen Leuten jede Menge Zeit verbringen, aber nach und nach wurde ich immer vorsichtiger bei der Auswahl der Menschen, mit denen ich mich umgeben möchte. Mir fällt sehr schnell alles Mögliche an ihnen auf, womit ich mich unwohl fühle. Eine Zeit lang hat mich das verunsichert: Oje, ich bin so kompliziert und überempfindlich. Aber nach einer Weile ergab doch wieder alles auf eine fast magische Art Sinn.
Es sind immer wieder neue Menschen in mein Leben gekommen und auf viele von ihnen habe ich früher oder später mit unguten Gefühlen reagiert. Aber wenn ich zurückblicke, was diese Menschen bei mir ans Licht gebracht haben, dann erscheinen mir auch diese unangenehmen Begegnungen alle wie himmlische Geschenke. Durch sie war ich gezwungen, mir immer noch mehr und noch mehr über mich selbst bewusst zu werden. Vorübergehend war das zwar unangenehm, aber im Vergleich zu der Klarheit, die diese Begegnungen am Ende bei mir hervorgebracht haben, war dieses Unwohlsein bedeutungslos. Von so einer Begegnung möchte ich dir jetzt erzählen und davon, wie ich das Geschenk darin sozusagen ernten konnte.
Vorweg: Es geht nicht darum, dass du jede Beziehung auf diese Art nutzt, jedenfalls nicht sofort. Denn sowas kann man nicht erzwingen, sondern ich erlebe es so: Es gab immer wieder Begegnungen oder Beziehungen in meinem Leben, die irgendwann anfingen, an mir zu nagen. Meine Aufmerksamkeit wurde dann immer wieder zu so einem Menschen hingezogen und es hätte mich Kraft gekostet, diese Gedanken zu verdrängen oder mich davon abzulenken – solche Situationen meine ich hier. Sie melden sich von allein, ohne dass du danach suchst. Im Gegenteil: Du glaubst vielleicht, dass du dich eigentlich mit was ganz anderem beschäftigen willst oder solltest, aber dann kommt dir die ganze Zeit ein bestimmter Mensch in den Sinn und lässt dich nicht in Ruhe. In so eine Beziehung empfehle ich dir, ganz tief einzutauchen und ich beschreibe dir, wie es aussieht, wenn ich das mache.
Manchmal sind das Menschen, die ich gar nicht besonders gut kenne, so dass mein erster Gedanke dann ist: Was soll das? Dieser Mensch und ich – wir haben doch fast überhaupt nichts miteinander zu tun und ich weiß kaum was über ihn. Warum geht er mir nicht aus dem Kopf? Einmal habe ich zum Beispiel Anne und Tanja, ein fröhliches Paar, kennengelernt. Wir alle drei mochten uns sofort, so dass ich mich am Anfang sehr über diesen neuen Kontakt gefreut habe. Aber nach ein paar Monaten fühlte sich irgendwas mit Tanja nicht mehr so gut für mich an und dieses ungute Gefühl beschäftigte mich immer mehr.
Erst wollte ich mir das ausreden und das Thema wegschieben: Tanja war doch immer so nett zu mir – konnte ich das nicht einfach mal so stehen lassen? Außerdem fühlte es sich fast so an, als ob ich sie mit meinen vielen Gedanken an sie belästigen würde. Aber dann erinnerte ich mich wieder, dass es doch sowieso alles nur meine eigene Energie ist und dass ich deshalb auch keine Angst haben brauchte, dass ich irgendwem schaden könnte. Nach einer Weile war einfach klar, dass ich keinen Einfluss auf meine Gedanken hatte und da wusste ich, dass es nur so wie immer laufen konnte: Wenn irgendwas direkt vor meiner Nase auftaucht und nicht von allein verschwindet, dann hilft nur eins: mitten durch. Oder anders formuliert: Wenn jemand so sehr an dir klebt, dann lass ihn einfach kleben und nimm wahr, wie sich das anfühlt. Ich wusste also, dass ich auch in diese Beziehung mitten hineintauchen musste. Also zog ich mich zurück und machte es mir auf meinem Sofa bequem. Ich schloss die Augen und hörte auf, gegen irgendetwas anzukämpfen. Stattdessen ließ ich jetzt alles zum Vorschein kommen, was von ganz allein in mein Bewusstsein drängte. Erst flackerten ein paar Bilder auf aus unseren letzten Begegnungen. Aber ich spürte, dass es nicht um etwas ging, was Tanja gesagt hatte. Sondern es war eher etwas in ihrer Haltung mir gegenüber – irgendwas daran war mir unangenehm.
Und während ich jetzt versuche, mich an diesen Moment zurück zu erinnern, bin ich genau an dem Punkt, den ich als so wertvoll empfinde. Denn genau hier, wo ich wirklich ganz tief in eine Beziehung eintauche, bin ich immer wieder so fasziniert von meiner Wahrnehmungsfähigkeit. Wenn ich nur einen kurzen Moment lang ganz offen beobachte und in die Stille hineinlausche, dann zeigen sich mir alle möglichen Dinge, von denen vorher nicht die leiseste Spur zu sehen war. Diese extrem konzentrierte Aufmerksamkeit erlebe ich immer wieder als sehr beglückend: Es fühlt sich an, als ob in so einem seltenen Moment meine gesamte Sensibilität zum Einsatz kommt, so dass ich mich ganz intensiv lebendig fühle. Und das ist nämlich auch der Grund, warum ich davon erzählen wollte: Ich möchte dir wirklich ans Herz legen, das auch mal auszuprobieren! Im ersten Moment fühlt es sich kurz verkehrt an, weil es ja ein ungutes Gefühl ist, das ich da verfolge. Aber sobald ich allen Widerstand aufgebe, zeigt sich mir so viel mehr, dass ich kurz darauf nur noch staunen kann.
Aber zurück zu Tanja. Ich war also innerlich hellwach, um zu erspüren, warum ich mich so merkwürdig unwohl mit ihr fühlte. Ich wollte herausfinden, was genau da zwischen uns stand… Eine Zeit lang passierte gar nichts, aber dann, nach und nach, lichtete sich der Nebel: Ich spürte, dass Tanja mir gegenüber irgendwie misstrauisch war. Und deshalb hielt sie immer so eine Art Sicherheitsabstand zu mir und vor allem hielt sie auch mich auf Abstand. Ich spürte weiter nach, warum sie so vorsichtig war. Und da… plötzlich wusste ich es – es war ein Wissen, das wie aus dem Nichts auf einmal da war: Tanja hat ein Geheimnis. Eins, das niemand kennt. Sie hatte ein Geheimnis und Angst, dass ich es aufdecken könnte. Mir war nicht klar, was genau dieses Geheimnis sein könnte, aber das war auch nicht wichtig. Ich konnte aber spüren, dass es etwas war, wofür sie sich schämte. Vielleicht sowas wie: Niemand darf wissen, dass ich eine totale Versagerin bin. Oder: Niemand darf wissen, dass ich dieses ganze Glück in meinem Leben überhaupt nicht verdient habe. Es war also ein sehr trauriges Geheimnis. Und ein ganz überflüssiges, weil natürlich kein Mensch ein Versager ist und jedem alles Glück der Welt zusteht. Aber ich konnte sehen, wie sehr Tanja davon überzeugt war. Und dass ihre Angst, enttarnt zu werden, der Grund dafür war, dass es zwischen uns so komisch war.
Eine Weile stand diese Tatsache einfach nur da in meinem Inneren, ohne dass ich etwas daran ändern konnte oder wollte – ich spürte keinen Impuls, irgendwie einzugreifen oder etwas anzusprechen. Aber dann überkam mich plötzlich eine ganz große und kraftvolle Klarheit. Ich dachte: Das ist nicht meins. Das ist Tanjas Überzeugung. Ich glaube nicht an solche Dinge, die sie so fertig machen. Das gehört ihr und nur sie kann dieses Problem lösen. Ich dulde nicht, dass ich darunter leiden muss. Ich möchte nicht, dass sie dieses Problem mit in unsere Beziehung bringt – ich will nicht mehr erleben, dass es mir deswegen schlecht geht. Und in diesem Moment konnte ich nur noch mich selbst fühlen. Die gesamte Situation fiel von mir ab und ich spürte, wie leicht und gesund ich selbst eigentlich war – ohne diesen fremden Ballast. Ich wusste nicht, was das jetzt genau für uns beide bedeuten würde, aber das spielte auch keine Rolle: Ich hatte eindeutig gespürt, wie sich dieses ungute Gefühl aufgelöst hatte und mehr interessierte mich nicht. In mir war wieder alles in Frieden und sofort verflogen die Gedanken an Tanja und ich hatte plötzlich Lust, mich mit etwas ganz anderem zu beschäftigen.
Danach begegneten wir uns ein paar Mal und jetzt fühlte sich alles entspannt an zwischen Tanja und mir, ich spürte nichts Unangenehmes mehr und auch keinen Drang mehr, über diese Beziehung nachzudenken. Und erst jetzt, während ich mir diese Geschichte in Erinnerung rufe, ergibt auch unsere letzte Begegnung erst richtig Sinn für mich. Das war ein paar Monate später und wir trafen uns zum Kaffeetrinken wieder, die beiden Frauen kamen spontan mit zu mir. Wir quatschten und lachten viel und als wir abends immer noch zusammen saßen, machten wir eine Flasche Wein auf. Dann wurden unsere Themen ernster und persönlicher und auf einmal: redeten nur noch die beiden miteinander. Sie fingen an, sich zu streiten und sie machten sich gegenseitig Vorwürfe. Und dann fing Tanja an zu weinen und hörte überhaupt nicht mehr auf.
Aber es war so merkwürdig: Das alles fühlte sich richtig an. Es kam mir vor, als hätte sich da eine riesige Menge an runtergeschlucktem Frust angesammelt und jetzt, wie bei einem Dammbruch, quoll das alles aus ihnen heraus, vor allem aus Tanja. Aber es fühlte sich richtig an und ich hatte den Eindruck, dass das alles nur passierte, weil ich dabei war. Als ob eine neutrale Zeugin nötig wäre, damit Tanja diese sehr persönlichen Dinge endlich loswerden konnte. Ich saß nur dabei und hörte zu. Nur ein, zwei Mal folgte ich einem Impuls, etwas anzumerken und dann weinte Tanja noch mehr – vor Erleichterung, weil ich damit anscheinend etwas bestätigt hatte, was sie sich nicht getraut hatte, so zu sehen. Sie weinte so sehr, dass ich sie in den Arm nehmen musste, obwohl ich sowas eigentlich eher selten mache. Aber jetzt fühlte es sich wie das einzig Richtige an.
Uh, das war ein intensiver Abend und ich verstand auch gar nicht richtig, was genau da eigentlich passiert war. Aber auf mich wirkte es, als ob sich zwischen Tanja und ihrer Freundin irgendwas Großes und Altes gelöst hätte und dadurch Platz für Neues entstanden war. Und wenn ich mich jetzt erinnere: Vielleicht hatte sogar Tanjas Geheimnis an diesem Abend etwas von seinem Schrecken verloren. Wie etwas, das sie nicht mehr brauchte, so dass es heilen und gehen konnte. Was auch immer passiert war: Es fühlte sich gesund und richtig an und so war es für mich eine schöne Erfahrung.
Ich habe viele solche überraschenden Entwicklungen erlebt, nachdem ich mir erlaubt habe, tief in Beziehungen einzutauchen. Aber häufig endeten Beziehungen auch genau an diesem Punkt. Denn oft spürte ich bei anderen Menschen Verhaltensweisen auf, die ich wirklich nicht mochte, zum Beispiel dass sie absichtlich versuchten, mich klein zu machen oder auszunutzen oder mich irgendwie zu manipulieren. Sobald ich das klar sehen konnte, wusste ich zweifelsfrei: Sowas brauche ich nicht in meinem Leben. Leute, die insgeheim solche Sachen im Sinn haben, wenn wir uns begegnen – mit denen möchte ich nichts mehr zu tun haben. Die Klarheit, die so eine bestimmte Begegnung in mir hervorbrachte, übertrug sich dann von allein auf meine gesamte Realität. Jedes Mal wusste ich, dass mein Leben leichter werden würde, weil ich ab sofort nicht mehr in Resonanz war mit Menschen, die dieses Verhaltensmuster zeigten – unsere Wege würden sich einfach nicht mehr kreuzen. Und manchmal – sehr selten, wie bei Tanja – veränderten sich auch die Menschen, mit denen ich mich so unwohl gefühlt hatte. Sie spürten, dass sie das alte Muster mit mir nicht fortsetzen konnten und wenn auch sie bereit waren, es loszulassen, dann konnten wir uns auf eine ganz neue Art begegnen. Das kam aber nur sehr selten vor.
Häufig waren es einfach hässliche Energiespielchen, die andere mit mir spielten. Ich war früher sehr anfällig dafür und wirklich leichte Beute für Leute, die mir gerne Energie abluchsen wollten. Ich fühlte mich nicht gut dazu in der Lage, mich davor zu schützen. Denn ich konnte nur entweder überhaupt nicht durchs Leben gehen, weil ich schmerzgekrümmt auf dem Sofa lag – oder aber absolut offen und gutgläubig. Immer auf der Hut zu sein, das wäre mir zu anstrengend gewesen, ich hätte so viel Konzentration einfach nicht aufbringen können. Also lief ich oft direkt ins offene Messer. Aber dann, durch das „tief in Beziehungen eintauchen“ wurde mir klar, dass ich jedes Mal grundsätzlich bestimmte, welche Art von Kontakten ich nicht mehr wollte. Nach so einer Entscheidung wusste ich, dass ich in Zukunft niemanden mehr treffen würde, der auch nur auf die Idee kommen würde, mich auf diese bestimmte Art zu behandeln. Dadurch fühlte ich mich mit der Zeit immer sicherer in meiner Welt.
Und deshalb – wann immer du dich auch nur ein bisschen unwohl mit jemandem fühlst: Ich empfehle dir, dieses ungute Gefühl erst gar nicht lange mit dir herumzuschleppen, sondern dich ihm möglichst bald zuzuwenden. Und dann tauch mitten hinein und lass dir von deiner Energie zeigen, was wirklich dahinter steckt. So ein Grummeln und Nagen ist nie ohne Grund da. Jedes Mal kannst du nur noch mehr Klarheit über dich selbst gewinnen und hinterher noch lebendiger und stabiler durch dein Leben gehen. In manchen Beziehungen passiert das auch viele Male: Etwas klärt sich und dann kommt ein neues Unwohlsein. Ich hinterfrage das nicht mehr, sondern ich nehme jede Gelegenheit mit. Ja, ich bin mir sicher, dass meine Energie mir genau die richtigen Menschen schickt, die mir helfen, den nächsten Teil meines wirklichen Ichs in diese Welt zu bringen. Also hab keine Angst, tauch mitten hinein!
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