Lies, wie leicht das geht
Heute möchte ich dir von dem Moment erzählen, in dem mir zum ersten Mal meine angeborene Selbstliebe bewusst wurde. Dieses Erlebnis liegt schon fast zwanzig Jahre zurück, ich war also noch ein ganz anderer Mensch.
Damals hatte ich noch eine heimliche Essstörung, schon seit meiner Schulzeit. Ich hatte immer Angst, dass ich zu dick werde. Meine „Methode“ ging so: Ich aß so wenig wie möglich und falls mir das nicht gelang – was fast ständig passierte – machte ich zum Ausgleich superviel Sport: laufen oder schwimmen. So gut wie jeden Tag ging ich joggen. Und jeden Morgen auf die Waage. Bloß gleichzeitig überkam mich immer wieder ein riesiger Heißhunger auf alles Ungesunde. Irgendwann hatte ich es aber dann doch mal für mehrere Wochen am Stück geschafft, mich so sehr zu disziplinieren, dass ich wirklich extrem wenig gegessen und extrem viel Sport gemacht hatte. Aber leider war es wie verhext: Trotzdem zeigte meine Waage mir an, dass ich ausgerechnet in dieser Zeit sogar noch zugenommen hatte!
Eines Morgens im Bett war ich völlig frustriert deswegen. Ich dachte: Da stimmt doch irgendwas nicht, das ist doch nicht möglich! Wie kann das sein? Was ist da bloß los?! In meiner Verzweiflung erlaubte ich mir endlich mal – es war das allererste Mal – mich nicht mehr länger zusammenzureißen, sondern meiner tiefen Enttäuschung und Frustration einfach freien Lauf zu lassen: Ach Mensch. Ich war diesen ewigen Kampf so leid. Wie sollte das weitergehen? Es konnte doch nicht sein, dass ich mich bis an mein Lebensende so anstrengen müsste, oder? Und wenn das überhaupt ausreichen würde. Ich ließ mich also fallen in meinen Kummer und meine Ratlosigkeit. Ich wünschte mir so sehr, dass sich etwas änderte, aber ich hatte überhaupt keine Idee, was ich machen könnte. Mein Gewicht nicht mehr zu kontrollieren erschien mir unvorstellbar: Es war doch logisch, dass ich dann sofort aufgehen würde wie ein Hefekloß.
Ich lag lange einfach nur da und war so erschöpft und traurig. Aber dann fiel mir nach einer Weile ganz unbeabsichtigt etwas auf. Nämlich, dass ich, obwohl ich so streng auf meine Figur achtete, gleichzeitig auch ein schlechtes Gewissen deswegen hatte. Weil ich dachte: Das sollte mir eigentlich egal sein. Es dürfte mir doch gar nicht so wichtig sein, wie ich aussehe. Ich entdeckte also ganz widersprüchliche Gefühle in mir. Und in diesem Moment wurde mir plötzlich klar, dass da so eine Art „heiliger“ Leitspruch in mir existierte. Er hing wie ein großes Banner über allem, was ich machte. Es war eine felsenfeste Überzeugung, die niemals, unter gar keinen Umständen, gebrochen werden durfte:
ICH MUSS MICH SELBST LIEBEN !!!
Ich wusste nicht, wo dieser Glaube herkam, aber jetzt war mir klar, warum ich mich so schlecht damit fühlte, dass ich überhaupt etwas an mir verbessern wollte. Und dann – bekam ich eine Gänsehaut, denn plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mit meinen Gewichtsproblemen hatte ich mich selbst in dieser Überzeugung herausgefordert. Ich hatte mich damit selbst getestet, um zu prüfen, ob ich das auch wirklich und unter allen Umständen tun würde – mich selbst zu lieben. Und in diesem Moment wusste ich auf einmal glasklar und zweifelsfrei: Ich werde mich immer lieben. Immer, immer, immer. Egal, ob ich aussehe wie eine Tonne oder das Gesicht voller Pickel oder Krätze habe oder mir alle Haare ausfallen, ob ich schiele, im Rollstuhl lande oder sonstwas: Ich wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass ich niemals, niemals, niemals aufhören würde, mich selbst zu lieben. Und nicht, weil ich es musste, sondern weil es einfach eine Tatsache war, an der ich gar nichts ändern konnte. Weil ich überhaupt nicht anders konnte, als mich selbst zu lieben: Diese Liebe war von ganz allein da und einfach nichts in der Welt hätte sie abstellen oder verringern können.
Und da kapierte ich erst, was das bedeutete: Ich war in Sicherheit, ich brauchte mir meine Liebe nie wieder zu beweisen. Und einen Moment später wurde mir klar, dass es sogar ein noch viel größeres Zeichen meiner Selbstliebe wäre, wenn ich mir erlauben würde, in einem unbeschwerten, beweglichen Körper zu stecken. Das alles sah ich plötzlich und diese Erkenntnisse berührten und bewegten mich ganz, ganz tief. So sehr, dass ich meine Waage noch am selben Tag verschenkte und mich seitdem nie wieder gewogen habe.
Mit dem Sport machte ich aber noch einige Jahre weiter. Zwar überhaupt nicht mehr so extrem und verbissen wie früher. Aber erst als ich ein paar Jahre später in das kleine Häuschen auf dem Land zog, fühlte ich mich auch damit auf einmal unwohl. Also ging ich genauso wie damals in mich und so wurde mir klar, dass es Angst war, was hinter dieser Gewohnheit steckte: Weil ich wegen meinen Schmerzen so oft nur auf dem Sofa liegen konnte, hatte ich Angst, dass mein Körper sozusagen einrosten könnte, wenn ich ihn nicht regelmäßig bewegte. Aber das Laufen machte mir immer weniger Freude. Ja, ich kriegte richtig schlechte Laune, wenn es anstand – und sogar noch mehr, wenn ich es doch mal ausfallen ließ.
Uuuh, das alles fühlte sich auf einmal nur noch verkehrt an. Denn seit meiner Erleuchtungserfahrung ergab es für mich immer öfter überhaupt gar keinen Sinn mehr, gegen meinen eigenen Willen – also gegen mich selbst – anzukämpfen. Also widmete ich mich meiner Angst: Der Angst, durch zu wenig Bewegung krank zu werden. Und ich merkte schnell, dass diese Sorge relativ schwach war. Und dass die Abneigung gegen das erzwungene Laufen dagegen viel stärker war. Und so war mir bald klar: Es ist mir egal. Lieber werde ich krank, als dass ich mich noch weiter so durch die Gegend jage, obwohl ich überhaupt kein bisschen Freude mehr dabei empfinde.
Und in diesem Moment tauchte plötzlich eine neue Möglichkeit in mir auf. Sie fühlte sich so lebendig und beglückend an, dass ich gar nicht anders konnte, als von ganzem Herzen Ja dazu zu sagen: Ich wählte, dass mein Leben von ganz allein voller Bewegung sein sollte. Dass das, was es ausfüllte, auf die unterschiedlichste Art mit Bewegung verbunden sein sollte. Und da sah ich plötzlich lauter Bilder aufflackern: Ich sah mich, wie ich Holz hackte, wie ich einen Baum umsägte, wie ich den Garten umgrub, wie ich Komposterde siebte, wie ich den Rasen mähte, das Dach fegte, wie ich Laub harkte, und: wie ich in meinem großen Schlafzimmer bei voll aufgedrehter Musik voller Freude tanzte.
Und genau so kam es. An diesem Tag endete mein Lauftraining – nach über 20 Jahren! Und stattdessen entdeckte ich meine Freude an der Gartenarbeit und ich konnte gar nicht genug davon kriegen: Immer neue Ideen hielten mich so gut wie jeden Tag in Bewegung. Und noch was konnte ich beobachten: Mein Körper veränderte sich. Nach und nach schmolzen die dicken, harten Muskeln, die sich durch den vielen Sport gebildet hatten und mein ganzer Körper wurde so weich und natürlich – bald steckte also auch in ihm nichts Gezwungenes mehr. Und im Rückblick erscheint es mir fast paradox: Genau seit dieser Veränderung war da in mir immer mehr ein ganz warmes und liebevolles Gefühl für meinen Körper. Ich mochte ihn einfach. Genau so, wie er in dieser natürlichen Version war. Und bis heute ist dieses Gefühl nur noch viel intensiver geworden – ich mag einfach alles an ihm. Wenn ich ihn im Spiegel sehe, dann möchte ich ihn oft am liebsten einmal drücken und ihm einen lieben Gedanken schenken. Und wenn ich daran denke, was er alles durchgemacht hat, mit diesen vielen, vielen Schmerzen, dann erscheint es mir wie ein einziges Wunder, dass er trotzdem noch so kerngesund ist.
Hihi, ich rieche meinen Körper sogar gerne: Manchmal, im Sommer, wenn ich irgendwo liege und döse, schrecke ich auf einmal innerlich auf: Ooooh, was riecht denn hier so gut? Und dann merke ich erst, dass ich mit der Nase direkt auf meinem Arm liege und der vertraute Duft von meiner Haut direkt in sie hineinströmt: Ah, das bin ja ich!
Das alles wollte ich dir erzählen, um dir zu zeigen, dass auch in dir diese absolut bedingungslose, natürliche Selbstliebe auf dich wartet. Bitte nimm deinen Kummer ernst. Wende dich ihm zu und hör ihn dir an. Denn so bringst du ihn ans Licht und wenn du ihn erstmal in seinem ganzen Schmerz vor dir ausgebreitet siehst, dann wird es sich gar nicht vermeiden lassen, dass deine Selbstliebe zum Vorschein kommt. Bitte, trau dich!
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Saiya (Dienstag, 13 Dezember 2022 13:02)
Liebe Mareike, was für einen Schatz habe ich hier in deinen Einträgen gefunden! Gestern suchte ich unter dem Stichwort "Lichterfahrung" eine Inspiration für einen Vortrag als Lehrerin für Yoga und Qigong und bin sehr, sehr berührt von Deiner Blogseite (ich lese nicht gerne Blogs;-)). - Ich bin über 11 Jahren mit einem erwachten Chinesischen Lehrer "unterwegs" gewesen und der Erleuchtungsweg ist eine große Sehnsucht in mir, die noch nicht gestillt ist. ( weil man sie ja nicht "herbeirufen" kann).
Du schreibst so tröstlich, authentisch und wahrhaftig! - Vielen Dank für diese Perle, die ich gefunden habe. - Ich nehme mir in den Weihnachtsferien Zeit - um Deine Texte zu genießen und werde bestimmt demnächst mal bei Dir eine "Session" vereinbaren.
Herzensgrüsse
Saiya
Mareike (Dienstag, 13 Dezember 2022 13:32)
Liebe Saiya, ich freue mich so sehr, dass du meinen Blog entdeckt hast und meine Worte dich berühren! Und DANKE für dein Feedback, das bedeutet mir sehr viel!